Die Stadt lebt durch den Wandel
Wohnbauten und Bürogebäude, aber vor allem deren materielle Zusammensetzung beeinflussen das Stadtbild. Gleichzeitig sind Bauwerke jeder Art einem steten Wandel unterworfen. Mit ebensolchen Umbrüchen setzt sich der Künstler Andreas Fogarasi in seiner Ausstellung „Nine Buildings, Stripped“ auseinander. Ihm ging es bei der Realisierung des Projekts darum, historisches Baumaterial in den Kontext moderner Werkstoffe zu setzen. Am Beispiel von neun Gebäuden zeigt er auf, wie gesellschaftspolitische oder ökonomische Anforderungen zum Aufstieg und Fall einzelner Gebäude oder gar ganzer Stadtviertel führen können. Durch den direkten Vergleich alter und neuer Baumaterialien, zeigt er, welche Formen und Ausmaße der architektonische Wandel in der Stadt annehmen kann.
Veränderung alswirtschaftliche Konstante
Gesellschaftliche Strömungen, Baunormen, wirtschaftliche und politische Umbrüche – jene Faktoren haben maßgeblichen Einfluss auf die Architektur. Dies zeigt auch die Geschichte der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft. Im Jahr 1970 wurde sie vom umstrittenen Architekten Carl Appel geplant und in Form eines Büroriegels schräg an der Wiedner Hauptstraße platziert. Kennzeichnend für das Gebäude waren ursprünglich ornamentierte, mehrfach geknickte Kassetten. Ebendiese bestanden aus fünf Millimeter dickem Aluminium – es handelte sich um eine abstrakte Struktur, die an eine Baumrinde erinnerte. Die Planer von ATP Architekten entwarfen 2019 ein neues Design für die Fassade. Dabei gingen sie weitaus sparsamer und bisweilen fragiler vor. Nun säumen champagnerfarbene eloxierte Aluminiumpaneele und dünne Keramikplatten den Bau. Dieser Wandel am Gebäude verdeutlicht, wie sich der Baustil in den letzten 40 Jahren verändert hat. Zunehmend starre Baunormen und -gesetze, aber auch der steigende wirtschaftliche Druck führen dazu, dass Baustoffe eine regelrechte „Abmagerungskur“ hinter sich haben. Umso deutlicher wird dieser Unterschied beim Betrachten von Fogarasis Materialpaket.
Der Wirtschaft fiel auch das nächste, ehemals bejubelte Projekt zum Opfer. Julius Natterer, Emil Japupec und Lukas Lang planten und realisierten 1980 das Rinterzelt im Norden Wiens. Für lange Zeit galt es als Wahrzeichen Transdanubiens, wobei den „Vesuv von Kagran“ eine ungewöhnliche Holzkonstruktion kennzeichnete. 48 leicht gekrümmte Holzleimbinder wurden zu einer stützenfreien Halle angeordnet. Bahnen aus Trapezblech stellten die wetterfeste, schützende Haut der Konstruktion dar. 1984 würdigte man das Bauwerk sogar mit dem Österreichischen Holzbaupreis. Errichtet wurde das Gebäude zum Zweck der Müllverwertung und -trennung – der Name „Rinter“ leitet sich aus den Begriffen Recycling und International ab. Doch schon bald stellte sich dieses Vorhaben als wenig praktikabel und ineffizient heraus. Denn bereits 1983 meldete Rinter Konkurs an. Nur kurze Zeit später übernahm die Stadt Wien den Bau. Die Nutzung des ehemals so innovativen Baus als Abfallbehandlungsanlage durch die MA 48 wurde dem Projekt aber nicht gerecht, weshalb mit dem Sommer 2019 schließlich die Abbrucharbeiten starteten. Gleichzeitig erbaute das Atelier Richard Palme nur wenige Meter neben dem Rinterzelt einen Ersatzneubau. Er beinhaltet neben divers angeordneten, übereinander liegenden Trakten für die Müllverarbeitung, große Fenster sowie eine Fassade aus silbergrauem Lochblech. An seinen architektonischen Erfolg konnte das Rinterzelt im Bereich der Ökonomie also niemals anknüpfen.
Der Städtebau am Zahn der Zeit
Der baustoffbezogene Wandel von Fußgängerzonen und Stadtplätzen ist ebenfalls Thema der Ausstellung Fogarasis. Als bekanntes Beispiel präsentiert er unter anderem die Entwicklung der Opernpassage. Nachdem sich in den 1950er-Jahren auf dem Verkehrsknotenpunkt zwischen Karlsplatz und Oper die Unfälle mit Fußgängern häuften, entschied sich die Stadt für die Errichtung einer Passage unter dem Opernring. 1955 wurde der von Adolf Hoch geplante Abschnitt eröffnet. Es handelte sich mit ihr um das erste unterirdische Verkehrswerk im Umkreis der Ringstraße. Mit ihr entstand auch das legendäre Café Rondo. Die 56 mal 51 Meter lange Konstruktion gilt auch heute noch als eines der schönsten Zeugnisse der Wiener Nachkriegszeit. Ursprünglich beinhaltete die Passage 32 konzentrisch angeordnete Säulen und zwei Unterzug-Lichtkränze. Auch waren die Stiegenabgänge mitsamt den tragenden Elementen damals mit marmoriertem Linoleum verkleidet.
In den 1970er-Jahren folgte ein nicht unbedingt sensibler Umbau der Halle. Nicht nur wurden die Lichtkränze entfernt, sondern auch die Säulen erhielten eine neue, steinerne Ummantelung. 2013 wollte die Stadt Wien diese unsanfte Überarbeitung, die dem Original in keiner Weise gerecht wurde, rückgängig machen. 2008 schrieb sie einen europaweiten Wettbewerb zur Erweiterung und Erneuerung der Karlsplatz-Passage aus. Die Opernpassage sollte im Zuge jenes Um- und Ausbaus in ihren ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden. Allerdings war es den zuständigen Architekten von GERNER GERNER PLUS, Ritter + Ritter und Vasco+Partner nicht möglich, das ursprüngliche Linoleum zu verwenden – es entsprach nicht mehr den heutigen Brandschutzvorschriften. Die Planer entschieden sich fortan dafür, den Originalbelag zu digitalisieren. Auf diese Weise produzierten sie eine Fotofolie, die sie zwischen zwei gewölbten Glasplatten einschlossen. Hierbei handelt es sich um eine zeitgemäße Umsetzung der historischen Optik. Ein kleines Potpourri verschiedener Materialien in Fogarasis Sammlung ist Zeugnis dieser bewegten Geschichte.
Dass auch Verkehrsknotenpunkte einem steten Wandel unterliegen, verdeutlicht das Areal um den ehemaligen Wiener Südbahnhof. Entworfen und umgesetzt wurde er vom Planer Heinrich Hrdlicka zwischen 1955 und 1961. Nach der Zusammenführung der Süd- und Ostbahngleise war es damals erstmals möglich, an ebendieser Stelle eine gemeinsame Bahnhofshalle zu errichten. Seinen Entwurf konzentrierte der Architekt und Zentralinspektor der Bauabteilung der ÖBB vordergründig auf die Proportion der Kassenhalle, die Komposition der Baustoffe sowie die räumliche Inszenierung des Aufbruchs. Mehr als 50 Jahre nach seiner Fertigstellung wurde der Bahnhof noch wegen der gekonnten Verarbeitung verschiedener Terrazzo-Oberflächen und Gesteinsmaterialien gelobt. Es war nach dessen Schließung im Jahr 2009 möglich, einige Bruchstücke der Materialien zu retten. Am ehemaligen Standort des Südbahnhofs steht heute der Erste Bank Campus. Realisiert wurde er zwischen 2012 und 2015. Das mit der Planung beauftragte Architekturbüro Henke Schreieck griff dabei bewusst auf traditionelle Materialien und Handwerksmethoden zurück. Den zentralen Umsteigepunkt ersetzt der heutige Hauptbahnhof am Fuße des Favoritner Sonnwendviertels. Mit der Planung wurde das Trio Ernst Hofmann, Albert Wimmer und Theo Hotz beauftragt. Auch diese Architekten entschieden sich für den Einsatz von Stein. Diesmal handelt es sich um grünen Naturstein aus Osttirol. Das Material kombinierten sie mit grauen Faserbetonplatten und Aluminiumelementen in Bronze. Überdacht wird das Konstrukt mit rautenmäßig angelegten Waben aus Aluminium.
Über das Scheitern und den Neuanfang
Auch Beispiele fehlgeleiteter Ortsplanung haben in der Ausstellung Fogarasis ihren Platz. Im Wien der späten 1990er-Jahre hatten Stadtverdichtungsprojekte einen hohen Stellenwert. Und im Rahmen dieser wurden etliche Blockbuster-Kinos errichtet. Eines davon war der Cineplexx Palace an der Reichsbrücke. Die Realisierung erfolgt im Jahr 1999 durch ostertag Architects und Harry Seidler. Der Erfolg der Unterhaltungseinrichtung war aber nur von kurzer Dauer. Mit rund 40.000 Kinosesseln war in der Bundeshauptstadt schnell eine Übersättigung erreicht, sodass der unrentable Kinobetrieb einer Indoor-Kinderstadt wich. 2013 war auch damit Schluss. Das Gebäude am Tor zur Donaustadt stand fortan leer. Lange Zeit wirkte es als Mahnmal einer fehlgeleiteten Investorenarchitektur. Im Jahr 2019 erfolgte schließlich der Abriss des schwerfällig wirkenden Bauwerks. Derzeit entsteht an dessen Standort Österreichs höchstes Wohnhaus. Das Projekt von A01 Architects soll 48 Etagen umfassen und eine Höhe von 170 Metern erreichen. Umlaufende Balkongeländer samt baulich integrierten Pflanzentrögen werden die Fassade des neuen Baus prägen. Die Zukunft wird zeigen, ob der Wohnbau auch seitens der Bevölkerung Zuspruch findet.
Eine Stadt braucht viele Gesichter
Vielseitigkeit definiert die Großstadt. Wandel ist unumgänglich und wird häufig durch sich ändernde soziale Strömungen begünstigt. Die Herausforderung für Architekten besteht darin, auf die unterschiedlichen Anforderungen der Bevölkerung – aber auch auf die Vorschriften der Verwaltung – richtig zu reagieren. Mit seinem Projekt zeigt Andreas Fogarasi, welche Formen und Ausmaße stadtgestalterische Neuerungen annehmen und welche Richtung sie in Zukunft einschlagen können. Seine Arbeit sieht der Künstler nicht als vollendet an. Die Zahl der Bauwerke wurde zufällig gewählt, wobei er in Zukunft eine Erweiterung nicht ausschließt. Denn für ihn ist der stadtgestalterische und architektonische Wandel niemals abgeschlossen. Jeder Ort lebt von der Veränderung, die sich an menschlichen Bedürfnissen orientiert.
Fotos: Andreas Fogarasi & BILDRECHT GmbH, 2019/Jorit Aust
Text: Dolores Stuttner
Kategorie: Architekturszene, Kolumnen