Weiche Schale, harter Kern – Experimentierhalle

2. Juli 2019 Mehr

Experimentierhalle

Indem sie dem Zeitgeist des gedanklichen Uniformismus entgegenwirkt, vermag die Fähigkeit der Kunst, unsere gewohnten Sichtweisen – wenn auch nur für einen Moment – auszusetzen, ihren größten Wert darstellen.

 

Expermimentierhalle DOX

 

Unter diesem Motto entstand 2005 auf einem mehr als 100 Jahre alten Industriegelände in dem Prager Bezirk Holešovice das Zentrum für zeitgenössische Kunst (Centrum pro současné umění) DOX. Im vergangenen Jahr wurde die Experimentierhalle von Ivan Kroupa realisierte und international viel beachtete Vorzeigeprojekt für moderne Architektur in der Tschechischen Republik von Petr Hájek ARCHITEKTI um einen Komplex aus drei miteinander verbundenen Gebäudeteilen erweitert.

Unter dem Namen DOX + ergänzen ein experimenteller Musik- und Tanzsaal, ein Tanzproberaum sowie das Verwaltungsgebäude der angegliederten Architekturschule ARCHIP die bestehenden Ausstellungsräume. Eine skulpturartige, elastische Membranhülle stülpt sich wie ein Sofabezug über die neuen Trakte, die auf diese Weise als kompositionelles Ganzes wahrnehmbar werden. Die Fassade erfüllt dabei mehrere Funktionen, sie wirkt nicht nur thermisch isolierend und wasserabweisend, sondern auch akustisch, indem sie den Restschall aus den Hallen absorbiert und dessen Reflexionen im Wohnhof auf diese Weise verhindert.

Die Akustik der Experimentierhalle ist aber auch von innen heraus variabel und lässt sich ähnlich einem Musikinstrument stimmen und somit individuell an jedwede Produktionsanforderung adaptieren. Unter der Betondecke des quadratischen Raumes (aufgrund dieser Form können die Sichtbetonwände von Absorbern frei bleiben) sind dreiseitige, mechanisch bewegliche Paneele angebracht, die als Diffusor, Absorber oder Reflektor dienen. In Kombination mit der Zu- oder Wegschaltung der ringförmig angeordneten, angrenzenden Foyers sind auf diese Weise Nachhallzeiten von 1 bis 1,6 Sekunden justierbar. Der 550 Personen fassende Raum verfügt über eine ausfahrbare Tribühne.

Während die Hülle wie eine weiche Wolke anmutet, bildet das Innere des Saals den krassen Kontrast zur kuscheligen Sofahülle: rohe Betonwände, nackte Industrieböden, unter der Decke sichtbare Konstruktionselemente und eine wirre Ansammlung an Technikelementen. Dennoch wirken die Räumlichkeiten hell und freundlich, füllen sich mit dem Betreten der Zuschauer und Künstler mit Leben und treten als stille Kulissen bescheiden vor den großen Inszenierungen zurück.

Das zum Teil mit Kunstrasen bestückte Dach des Saals ist begehbar und bietet neben der Möglichkeit zur Entspannung auch Platz für Outdoor-Installationen oder Open-Air-Vorstellungen. Zu diesem Zwecke wurde über dem Zuschauerraum eine kleine Hängebrücke für akrobatische Einlagen platziert. Das für den europäischen Mies van der Rohe Award 2019 nominierte Projekt besticht durch seine schlichte Schönheit. Man möchte die Augen schließen, sich wie auf einem überdimensionalen Sofa zurücklehnen und ganz bei sich den künstlerischen Klängen lauschen.

 

Fotos:©Benedikt Markel, Petr Hájek ARCHITEKTI

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Kategorie: Magazin