Eduardo Tresoldi und das Vergängliche
Ephemere Architektur
Ist das Vergängliche interessanter für den Menschen, weil er es im Vergleich zu all dem Materiellen nicht besitzen, nicht okkupieren kann? Das ist eine Frage, die uns direkt in die Philosophie und Psychologie und damit zu Erich Fromm mit seinem Werk „Haben oder Sein“ führt: Ist das (Er)Leben oder das Besitzen wichtiger? Oder anders gefragt: Ist es besser, nichts zu besitzen, weil man dann auch keine Angst haben muss, etwas zu verlieren und sich somit voll dem Leben, dem Sein zuwenden kann?
Der italienische Künstler Eduardo Tresoldi widmet sich mit seinen meist aus Draht gestalteten Plastiken dem Vergänglichen, dem Ephemeren (altgr. ephemeros). Indem er Linien im Raum und in der Landschaft zeichnet, wendet er sich auch dem Fragilen und Durchscheinenden zu – einer mit dem Auge nicht komplett fassbaren Architektur oder Raumformung.
2016 hat er für das „Eaux Claires Festival“, das jährlich im August in Eau Clair, Wisconsin, stattfindet, direkt im Zentrum des Events ein riesiges, aus Drahtgittern gefertigtes Orgelobjekt errichtet.
Die Installation trägt den Namen „Baroque“ und wurde in Zusammenarbeit mit dem Kreativdirektor des Festivals, Michael Brown, und dem englischen Organisten James McVinnie errichtet. Das virtuelle Musikinstrument wurde in einem noch größeren und ebenfalls aus Gittern errichteten Körper platziert, der an einen klassischen Kuppelbau erinnert. Die turmähnliche Installation hat die strukturellen Maße von
6 x 6 x 4,8 Meter und beherbergt in seinem Inneren eine etwas kleinere, tatsächlich funktionierende Orgel, auf der während des Festivals zwei Tage lang Orgelkonzerte und Improvisationen stattfanden.
Die Skulptur ist das letzte, neueste Werk des Künstlers Tresoldi, der seine Karriere als Bühnenbildner begann. Heute widmet er sich ausschließlich der Kreation von Drahtstrukturen. Sein Werk, und so auch dieses, ist von einem unbeschreibbaren Hauch der Zerbrechlichkeit durchdrungen, aber trotz (oder wegen) ihrer beachtlichen Größe steht die Installation „Baroque“ sicher am Boden. Die Skulptur, der geschaffene Raum, bietet eine zeitlich begrenzte Form an und bleibt gleichzeitig unberührbar: Ein antiker Tempel, ein Raum für Töne, für Musik? Oder nur eine im Raum materialisierte Zeichnung eines Sakralbaus?
Das solcherart entstandene Volumen ist vergänglich, nicht nur weil es wahrscheinlich irgendwann abgebaut und hoffentlich an einem anderen Ort wieder aufgebaut wird. Hier wird ein schmaler Grat zwischen Vision, Utopie (im Sinn von U-Topos – Nichtort) und Realität beschritten, ein Weg, welcher in jedem guten Architekturprojekt für den Schöpfer während der Ausführung zu einer Herausforderung wird. Tresoldi balanciert auf genau diesem Grat: Er imaginiert, baut auf das Vergängliche und überlässt es den anderen, sich mit einer Nutzung auseinanderzusetzen. Er ist sich des Ephemeren seiner Schöpfung bewusst – Dauerhaftigkeit ist nicht intendiert. Auf jeden Fall stimuliert diese Skulptur auch den Geist, denn dieser versucht mit den Augen automatisch aus den Linien, Strichen der Gitterkonstruktion, einen realen, wenn auch nur im Hirn existierenden, Raum zu imaginieren. Auch der architektonische Begriff des sogenannten „Negativraumes“ spielt bei seinen Konzepten eine Rolle: Die Hohlräume, die Zwischenräume in den Gittern, werden vom menschlichen Auge zu der vorgestellten Architekturform ergänzt. Im Fall von „Baroque“ entsteht der Eindruck einer hastig und schnell hingeworfenen Skizze, wie eine Blaupause, welche zum Leben erweckt wird. In der Nacht füllt sie sich mit Licht und so wird die Imagination fast real, ein flüchtiger Effekt – ephemer. Er atmet kurz im Licht und der Musik des Augenblicks und schließt sich wieder, stirbt.
Bei Nachteinbruch erschien das Werk von Tresoldi jedes Mal wie eine majestätische architektonische Skulptur, vielleicht wie das Volumen einer frühchristlichen Kirche. Gleichzeitig hatte es die Fähigkeit, eine Verbindung zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart herzustellen. Es ist ein Werk, das sich mit der weltlichen Kontroverse über die Wirkmacht von Kunst auseinandersetzt und zwei komplementäre Sprachen in einer einzigen, atemberaubenden Szenerie zusammenführt.
Text: Peter Reischer
Fotos: © Nicola Formicola